Vom Winter 1946 bis 1947 häuften sich die Übergriffe der Besatzer auf die Bevölkerung. Willkürliche Verhaftungen bei den Dorfbewohnern versetzten die Bevölkerung in Angst und Panik. Meinen Cousin Erich, der todkrank aus der Gefangenschaft kam, haben sie vom Bett weg verhaftet. Zwei Soldaten mit vorgehaltenen Gewehren stürmten in das Haus meiner Tante. Es war nachts, sie rissen die Tür auf schrien: "Du Werwolf, dawei, dawei, du mitkommen, du verhaftet". Vom Bett, nur mit Schlafanzug bekleidet, wurde er abtransportiert. Was das für die Mutter und den Vater bedeutet, ohnmächtig dabeizusein und nichts verhindern können, kann man nur nachfühlen, wenn man ähnliches erlebt hat. Die Eltern haben nie wieder von ihrem 22-jährigen Sohn gehört. Dass die Eltern alles versucht haben, den Aufenthaltsort des Sohnes herauszubekommen, ist wohl selbstverständlich. Aber alles war ergebnislos im Sand der Nachkriegszeit verlaufen. Solche willkürlichen Übergriffe waren an der Tagesordnung. Besonders schlimm war es in bestimmten Dörfern, zu Beispiel in Unter- und Oberlind. Diese schlimmen Anlässen führten dazu, dass sich ein Warnsystem herausgebildet hatte. Stand so eine Razzia bevor, ging es von Haus zu Haus "heute kommen die Russen wieder..." - die Männer verschwanden durch den Hinterausgang des Hauses, und kamen erst wieder Tage später zurück. Frauen und Kindern tat sie nichts, außer die Soldaten witterten Alkohol. Jetzt lachte niemand mehr über die Russen, jetzt hat die Bevölkerung nur noch Angst. Dass die Besatzer ein Soll hatten, arbeitsfähige Männer für die Bergwerke in Sibirien aus der Sowjetischen Zone zu stellen, wußten wir nicht. Viele Jahre später, nämlich 1999, habe ich einen Film von Freya Klier über die Internierungslager in Sibirien gesehen. Dieser Dokumentarfilm zeigte, dass jedes Quartal ein Güterzug mit jungen Männern die Ostzone verließ, um die Kohleförderung in Sibieren Aufrecht zu erhalten. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren so katastrophal, und die Sterblichkeit der Menschen so hoch , dass laufend neues Menschenmaterial beschafft werden mußte. Die Internierungslager, auch Arbeitslager genannt, wurden mit Menschen aus der Besatzungszone "aufgefüllt". Unser einziger Bäcker im Dorf, von allen geachtet und unbescholten, wurde bei so einer Razzia verhaftet und blieb auf lange Jahre hinaus verschwunden. Ob er in Buchenwald oder in Sibirien war, weiß ich nicht. Zurückgekommen, war er ein Schatten seiner selbst. Gebrochen an Leib und Seele lebte er nicht mehr lange unter uns. Nie kam ein Wort über diese Zeit über seine Lippen. Diese Menschen waren zum Schweigen verpflichtet worden. Auch die Schrecklichkeiten, die er erlebt hatte, wurden selbst vor dem engen Familienangehörigen verschwiegen. Ein dunkles Kapitel in der Nachkriegszeit sind die Toten, die im Frühjahr nach der Schneeschmelze in Feldern und in der Mues gefunden wurden. Die Schüsse, die wir im Dorf in der Dunkelheit oft hörten, kamen nicht etwa nur daher, dass die Russen auf Hasen und anderes Wild Jagd machten, sondern sie schossen auch Menschen tot. Die Leichen, die im Frühjahr bei der Feldarbeit entdeckt wurden, waren meist junge Männer, die nicht aus unserer Gegend stammten. Vergraben waren sie nur notdürftig, in der Mues nur mit Laub zugedeckt. In unserem Friedhof gibt es eine Ecke von Bestattungen aus dieser Zeit. Diese Toten wurden nie identifiziert. Zu denken ist, dass junge Männer aus der sowjetischen Gefangenschaft sich in die Zone entlassen ließen, ihre Familienangehörigen aber in die amerikanische Besatzungszone gezogen waren. Kurz vor dem Ziel, bei der Familie zu sein, kamen diese jungen Männer ums Leben. Niemand konnte benachrichtigt werden.
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