Am späten Nachmittag des 17. Juni 1953 kam ich im Behelfsheim an. Es fuhr keine Straßenbahn, ich musste vom Holzmarkt aus nach Lobeda laufen. Vielen Menschen, die in den Ortschaften um Jena wohnten, erging es nicht anders. Wir Lehrlinge sahen vorher noch die Erstürmung der SED-Kreisleitung Jena, die über dem Kino "Palasttheater" ihren Sitz hatte. Von wütenden Demonstranten wurden aus den Fenstern der Kreisleitung Parteiausweise, Parteiliteratur, Parteiabzeichen und Akten hinausgeworfen. Das lag nun alles auf dem Holzmarkt. Inzwischen hatten sich die Demonstrierenden in der Stadtmitte in verschiedene Gruppen aufgeteilt. Eine davon zog zum Gefängnis, verschaffte sich dort Zutritt und befreite die Inhaftierten, hauptsächlich solche, die wegen politischer Anschuldigungen im Gefängnis saßen. Ich wollte nach Hause gehen, denn ich hatte Hunger, außerdem beschlich mich ein Gefühl der Angst. In der Mittagszeit, so gegen 13 Uhr, ging das Gerücht um, die Russen kommen mit Panzern. Der Holzmarkt war voll von Menschen, ich versuchte aber auf Nebenwegen in die Richtung nach Lobeda zu kommen. Fast gleichzeitig mit meinem Vater kam ich im Behelfsheim an. Er war sehr bleich im Gesicht, holte sich sein altes Fahrrad aus dem Schuppen und machte es fahrbereit. An den nächsten Tagen fuhr er mit seinem Rad einen großen Umweg über viele Dörfer, um zu seiner Arbeit, zum Schlachthof Jena zu kommen. Er hatte große Angst, durch Zufall in eine Razzia der Russen zu geraten und dadurch aufzufallen. Mich ermahnte er, mich an nichts Politischem zu beteiligen, nichts zu sagen und nichts zu tun, was nicht unmittelbar mit meiner Berufsausbildung zusammenhing. Seine Angst war begründet, schon am nächsten Tag setzten die Verhaftungen ein. Noch am 17. Juni nachmittags fuhren die Panzer in Jena ein und besetzten die Ausfallstraßen der Stadt. Auf Lastkraftwagen der Roten Arme wurden alle Menschen aufgeladen, die auch nur zufällig auf dem Holzmarkt standen, und wurden abtransportiert. Die meisten wurden nach 3 Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt, aber registriert wurden sie alle. Am 18. Juni ging ich zu Fuß nach Jena, denn die Straßenbahn fuhr noch nicht bis zur Stadtmitte. Die meisten Leute, die mir unterwegs begegneten, wirkten ausgesprochen bedrückt. Wir hatten wieder Unterricht, aber über die Ereignisse des vergangenen Tages wurde von den Lehrern kein Wort geredet.
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